KUNSTAKTIVISMUS
Michael Seibel • Kommentar: DIE TOTALE ÄSTHETISIERUNG DER WELT
ALS ERÖFFNUNG
DER POLITISCHEN AKTION (Last Update: 21.10.2014)
Lettre International
No. 106 bringt einen Text von Boris Groys unter dem Titel
KUNSTAKTIVISMUS - DIE TOTALE ÄSTHETISIERUNG DER WELT ALS ERÖFFNUNG
DER POLITISCHEN AKTION
Er macht sich darin
Gedanken über Kunstaktivisten, die mit Mitteln der Kunst das
Kunstsystem und die allgemeinen politischen und gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen verändern wollen. Er hält das insofern
für ein neues Phänomen, als dass Kunstaktivisten heute ohne
die politische Rückendeckung auskommen müssen, wie sie die
russische Avantgarde seinerzeit hatte.
Kritiker
halten dagegen, künstlerische Qualität werde dabei durch
gute moralische Absichten ersetzt. In der
Tradition Benjamins wird oft argumentiert, Kunst eigne sich nicht als
Medium politischen Protests,
»weil
sie die politische Aktion unvermeidlich ästhetisiere, sie zu
einem Spektakel mache und damit ihre praktische Wirkung
neutralisiere.«
Boris Groys
versucht, die politische Funktion von „Ästhetisierung“
zu klären.
Seine These:
»Der
Grund für diese Konfusion ist die Unterteilung der heutigen
Kunstpraxis in zwei verschiedene Bereiche: in Kunst
im eigentlichen Sinne des Wortes und in Design.
„Ästhetisierung“ bezeichnet in den beiden Bereichen
zweierlei, ja Gegensätzliches.«
Beginnend beim
griechischen Begriff techne, der
Kunst und Technik gleichermaßen meint, diene Ästhetisierung
dem Bemühen, Geräte, Waren oder Ereignisse für den
Benutzer ansprechender, verführerischer zu machen, ganz
unabhängig davon, ob es sich um Dinge des alltäglichen
Gebrauchs, des religiösen Rituals oder der herrschaftlichen
Repräsentation handle.
Darauf,
was dabei verführerisch machen = ästhetisieren des näheren
heißen könnte, geht er nicht ein. Es ist immer interessant
zu beobachten, was Autoren für selbsterklärend halten. Aber
weiter im Text.
Er schlägt
jetzt vor:
»Insofern
sollten wir die gesamte Kunst der Vormoderne nicht als Kunst, sondern
als Design betrachten.
(…) Ja, selbst die
Kunst der europäischen Ancien Régimes vor der
Französischen Revolution ist nur religiöses Design oder
Design von Macht und Reichtum. Unter den heutigen Bedingungen ist
Design omnipräsent geworden.«
Politik sei
ebenfalls längst Gegenstand der professionellen Herstellung von
Images. Bei „Ästhetisierung der Politik“ sei mit
„Ästhetisierung“ in der Tat oft Design gemeint. Die
Ästhetik von Uniformen zum Beispiel. Dieser Begriff von
Ästhetisierung sei jedoch nicht mit dem von Walter Benjamin
gemeinten zu verwechseln, der seinen Ursprung nicht im Design,
sondern in der modernen Kunst habe. Denn im Bereich des Designs
versuche „Ästhetisierung“, das Funktionieren eines
technischen Geräts für den Benutzer attraktiver zu machen.
Im Kontext heutiger Kunst bedeute „Ästhetisierung“
aber »im Gegenteil
Defunktionalisierung, gewaltsame Aufhebung der praktischen
Verwendbarkeit des Geräts.«
Groys These dazu:
der heutige Begriff von Kunst und Kunstästhetisierung habe seine
Wurzeln in der Französischen Revolution. Üblicherweise
enden Revolutionen mit eine Phase ikonoklastischer Aktionen, in der
die Bildsymbole des alten Regimes vernichtet würden. Aber so sei
die Französische Revolution gerade nicht vorgegangen.
»Statt
die mit dem Ancien Régime verbundenen sakralen und profanen
Dinge zu zerstören, defunktionalisierten, will sagen:
ästhetisierten sie sie. Die Französische Revolution machte
aus dem Design des Ancien Régime das, was wir heute als
„Kunst“ bezeichnen, das heißt etwas, Dinge, die
nicht zum Gebrauch, sondern zum bloßen Betrachten bestimmt
waren. Dieser gewaltsame, revolutionäre Akt der Ästhetisierung
des Ancien Régime führte zu Kunst, wie wir sie kennen.
Vor der Französischen Revolution gab es keine Kunst, sondern nur
Design. Kunst gibt es erst seit der Französischen Revolution —
als totes Design.«
Groys fragt nun, ob
es besser gewesen wäre, die toten Überreste des Ancien
Régime zu vernichten, statt sie als Kunst auszustellen. »Ich
möchte behaupten, daß Ästhetisierung eine viel
radikalere Form der Tötung ist als der traditionelle
Ikonoklasmus.«
Museen seien
Friedhöfe, die im Gegensatz zu gewöhnlichen Friedhöfen
ihre Leichen nicht verbergen, sondern ausstellen, so wie Stalin Lenin
habe ausstellen lassen, damit für jeden sichtbar sei, dass das
Vergangene keine Chance auf Rückkehr habe.
»Der
ästhetisierte materielle Leichnam dient als Beweis für die
Unmöglichkeit von Auferstehung.«
Kunst im modernen
Sinne sei nichts anderes als der defunktionalisierte, öffentlich
ausgestellte Leichnam der Vergangenheit. Kunst betrachte die
Gegenwart generell aus postrevolutionärer Perspektive.
Zeitgenössische Kunst betrachte die Gegenwart als obsolet, als
außer Funktion, als reduzierbar auf reine Form. Nicht anders,
als die Französischen Revolutionäre das Design des Ancien
Régime betrachtet habe.
In einer längeren
Bemerkung geht Groys auf Tommaso Marinettis futuristische
Ästhetisierung der modernen Industrie und seine Glorifizierung
des Krieges ein. Groys ist der Ansicht, selbst ein Marinetti werde
missverstanden, wenn man ihn rein als Vorkämpfer neuer
technologischer Wirklichkeiten verstehe. Marinettis Raserei finde
näher besehen innerhalb einer Rahmenhandlung statt, die die
Ästhetisierung der Moderne aus der Perspektive des Rückblicks
auf sie, also als auf etwas Totes vornehme. Das Argument wäre
sicher wert, weiter ausgearbeitet zu werden, als Groys es letztlich
in seinem Text tut. Er begnügt sich mit einer Passage von
Marinetti, die von einer rasenden, in einem Unfall endenden Autofahrt
erzählt. Marinetti: „Wie dumm.’ Puh! Ich bremste
hart, und vor lauter Ärger stürzte ich mich, mit den Rädern
nach oben, in einen Graben Oh, mütterlicher Graben, fast bis
zum Rand mit schmutzigem Wasser gefüllt.’ (...) Ich
schlürfe gierig deinen stärkenden Schlamm, der mich an die
heilige, schwarze Brust meiner sudanesischen Amme erinnerte.“
Der Anschluss an die
Moderne wird werde also auch bei Marinetti aus der Perspektive seines
Scheiterns erzählt, todessehrsüchtig und regressiv. Da wäre
sicher noch mehr drin.
»Der
heutige Kunstaktivismus (...) politisiert (...) die Kunst, macht
(...) von Kunst als politischem Design Gebrauch (...). Andererseits
steht der Kunstaktivismus in einer viel radikaleren, revolutionären
Tradition der Ästhetisierung von Politik, nämlich der
Tradition, das eigene Scheitern als Vorahnung und symbolische
Vorwegnahme des unabwendbaren Scheiterns des Status quo in seiner
Totalität akzeptieren zu müssen.«
In der heutigen Welt
verweise nur Kunst »auf
die Möglichkeit einer Revolution als einer radikalen Veränderung
über den Horizont all unserer Wünsche und Erwartungen
hinaus«.
(Sollte uns Kunst das Fürchten lehren?)
Philosophischen Metanoia, »Umwendung
des Blickes: Der Angelus Novus kehrt der Zukunft den Rücken zu
und blickt auf die Vergangenheit und Gegenwart zurück.«
Die Rückwendungsmöglichkeit
bot früher die Religion, später Hegels Vorstellung einer
vollendeten Geistesgeschichte, die Vorstellung vom Ende der
Kräfte (Nietzsche), von der Verdrängung des Begehrens
(Freud) oder extreme Langeweile (Heidegger). Benjamin hingegen
brauche eine solche Rückwendungsmöglichkeit nicht eigens zu
begründen, denn er findet sie in Form der künstlerischen
Moderne vor und nutze sie derart.
Kreativität als
Versuch, die Dinge nicht nur neu, sondern besser zu machen, sei Sache
des Designs.
»
Moderne,
zeitgenössische Kunst möchte die Dinge nicht besser,
sondern schlechter machen — und nicht relativ, sondern radikal
schlechter: Sie möchte aus funktionalen Dingen dysfunktionale
machen, Erwartungen enttäuschen, die unsichtbare Gegenwart des
Todes anzeigen, wo wir geneigt sind, nur Leben zu sehen.«
Paul Klee, Angelus Novus, 1920
Malewitsch habe
einmal die bezeichnende Widmung in ein Buch geschrieben, das er dem
Dichter Daniil Charms schenkte:
„Geh hin und stoppe den
Fortschritt.“
Inwiefern greift
Kunst als Umkehr-Design in politische Prozesse ein? Groys setzt beim
Gedanken an, dass unsere Zivilisation auf Ungleichheit basiert, dass
jedoch viele Menschen glauben, sich damit vermöge ihrer
individuellen Begabungen durch sozialen Aufstieg arrangieren zu
können.
Es liege jedoch »auf
der Hand, daß der Glaube an natürliche Begabungen und
Kreativität die schlimmste Form von Sozialdarwinismus,
Biologismus und auch Neoliberalismus mit seiner Vorstellung vom
„Humankapital“ ist.«
Nach kritischem
Seitenblick auf Foucault, Beuys und Trotzki schließt Groys ab:
»Echte
politische Transformation ist (...) nicht nach derselben Logik von
Talent, Bemühung und Wettbewerb erreichbar, auf der die heutige
Marktwirtschaft basiert, sondern (...) durch Umkehr, bezogen auf die
Bewegung des Fortschritts und den Druck zum Aufstieg. (...) Nur wenn
wir lernen, sowohl den Mangel an Begabungen als auch das
Vorhandensein von Begabungen zu ästhetisieren, also nicht
zwischen Sieg und Niederlage zu unterscheiden, entgehen wir der
theoretischen Blockade, die den heutigen Kunstaktivismus bedroht.«
In diesem Sinn biete
Ästhetisierung eine Erweiterung politischer
Handlungsmöglichkeiten.
„Totale
Ästhetisierung bedeutet, daß wir unsere Epoche als schon
tot, den Status quo als aufgehoben betrachten. Es bedeutet weiter,
daß jede Aktion, die auf Stabilisierung des Status quo zielt,
letztlich fruchtlos — und jede Aktion, die auf Zerstörung
des Status quo zielt, letztlich erfolgreich sein wird.“
Groys
weist dabei zugleich auf die Dialektik hin, in die der öffnende
Rückblick auf die ästhetisierte, sprich mortifizierte
Gegenwart hineinläuft. Was sieht derjenige eigentlich von sich
selbst, der im Kunstwerk die Gegenwart als Totenhaus sieht? Er sieht
das Subjekt sozusagen als den Marinetti im Straßengraben, sich
selbst als Leiche. Memento Mori!
Es
stimmt. Das Bild der Sünder auf dem Weg in die Hölle hat so
manchem geholfen, sich diesseits selbst zu überschreiten. Die
Selbstanschauung als Leiche, die religiöse Kunst schon sehr
lange kontrafaktisch anbietet, wird zur Vehikel der Selbstüberschreitung,
allerdings in Richtung Gottes, in Richtung der Unterwerfung unter das
Gesetz, mithin in eine ganz andere Richtung als die
polit-aktivistische.
Warum
aber sollte das Ziel der Überschreitung ohne Bild sein? Haben
nicht die mittelalterlichen Altäre neben der Kunst-Seite der
Höllendarstellung auch die Design-Seite des Himmels gezeigt?
(Ich denke an Walter Benjamins Bemerkung: ”Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen,
eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung
die Stunde noch nicht gekommen ist.“ Möchte Groys darauf verzichten?)
Die
Richtungsangabe, die politische Aktion braucht, als bilderlos zu
sehen, scheint mir stark an Hegels Denken orientiert, denn die
Anschauung wäre wieder das Primitivere gegenüber dem daran
anknüpfenden Gedanken ohne Anschauung, sich in einer Reflexion
selbst zu überschreiten.
Diese
Denkfigur kommt mir also bekannt vor.
Groys
unterscheidet rigide Design und Kunst, eine Ästhetisierung, die
die Funktion unterstützt und eine Ästhetisierung, die die
Funktion negiert. Diese Unterscheidung ist soweit geläufig. Zu
sagen, alles vor 1789 war Design, ist mir zu holzschnittartig.
Rein zeitlich gibt es diese Trennung voll ausgeprägt in der Tat in
etwa seit der Französischen Revolution. Und richtig ist ferner,
dass Revolutionen, aber auch militärische Eroberungen landauf
landab vor der Alternative stehen, die Artefakte der Besiegten
umzuwidmen, auszustellen oder zu vernichten. Das ist jedoch nicht
erst seit 1789 der Fall. Der Raub von Kunstschätzen und deren
Ausstellung als Bürge der eigenen Macht ist alte politische
Praxis.
Neu
an der Französischen Revolution scheint mir eher, dass der
Achill, der jetzt den toten Hektor um Troja schleift, erstmals der
Bürger ist. Jedermann in welcher symbolischen Form auch immer
die Leiche zu zeigen, hat Tradition. Nun ab 1789 eben auch erstmals
eine bürgerliche. Interessant wird es eigentlich erst, wenn sich
angeben lässt, was die bürgerliche Spezifik des Vorgangs
ausmacht, denn die wäre das Neue. Das tut Groys nicht.
Mir
scheint jedenfalls nicht der Fall zu sein, dass es vor 1789 keine
Kunst gab, allein die Bürger hatten vorher keine, die hatten mit
Groys zu reden Design, jene kleinen holländischen Stillleben in
passendem Kleinformat zum Säckel. Jedenfalls reichte es vorher
nicht zur selbstbewussten Leichenschau.
Ferner
scheint mir die Vermutung unplausibel, dass es eine Verschmelzung von
Ästhetisierung und Nutzungsverbot erst seit 1789 gibt. Es wäre
zu unterscheiden, was jeweils Gebrauch heißt. Der
Gebrauch von Repräsentationsobjekten war noch nie ihr
Verbrauch. Und wo Macht zu repräsentieren war, zeigte man
zumeist die toten Feinde, immer im Blick zurück.
In
Gebrauch wäre beides, das sakrale Symbol, das Groys dem Design
zuschlägt und die schöne Leiche, das Ausstellungsobjekt,
die Kunst.
Das
Argument, dass Kunst sozusagen im Blick zurück, in der Metanoia
den Tod vorzeigt, ist in vieler Hinsicht interessant, auch wenn man
der Ableitung nicht folgt, die Groys gibt.
Ein
Wort noch zur Verbindung von Kunst und Politik, wie Groys sie denkt.
Lesen wir es einfach ein zweites Mal:
»Totale
Ästhetisierung bedeutet, daß wir unsere Epoche als schon
tot, den Status quo als aufgehoben betrachten.«
Das Tote an
einer Epoche ist nach meinem Verständnis aber doch gerade der Status quo, gerade wo er unaufhebbar zu sein scheint.»Es
bedeutet weiter, daß jede Aktion, die auf Stabilisierung des
Status quo zielt, letztlich fruchtlos — und jede Aktion, die
auf Zerstörung des Status quo zielt, letztlich erfolgreich sein
wird.«
„Letztlich“,
meint das am Ende aller Tage, meiner, unserer Tage, irgendwann? Klar,
wir steigen eben nicht zweimal in den selben Fluss. Das scheint mir
eine recht tautologische Grußadresse der Kunst an die Politik.
Trotz dieser Einwände finde ich den Text wegen seines Hinweises auf
die Nähe von Kunst und Leichenschau nicht wenig inspirierend.
Dennoch ist es eher ein Text für Kunsttheoretiker als für
Kunst- und Politaktivisten.
Ihr Kommentar
Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.